Internationales Projekt:
„Interkulturelle Beziehungen der Bessarabiendeutschen, 1918-1940. Ein Pilotprojekt zur Didaktisierung von schriftlichen und mündlichen Quellen“
In der Zeit vom 15. April bis zum 31. Dezember 2020 wurde das internationale Projekt „Interkulturelle Beziehungen der Bessarabiendeutschen, 1918-1940. Ein Pilotprojekt zur Didaktisierung von schriftlichen und mündlichen Quellen“ durchgeführt, an dem auch Mitglieder des Moldauisch-Deutschen-Forums (MDF) teilgenommen haben. Das Projekt war im Rahmen des übergeordneten Projekts „Deutsch in der Ukraine 2“ angesiedelt (15.07-31.12.2020) und wurde durch das Forschungszentrum Deutsch in Mittel-, Ost-, und Südosteuropa (DiMOS) an der Universität Regensburg (Deutschland) organisiert, mit finanzieller Unterstützung der Beauftragten der deutschen Bundesregierung für Kultur und Medien.
Am Projekt haben vier in Chişinău (Republik Moldau) angesiedelte Forscherinnen und Forscher sowie eine Forscherin aus Ismajil (Ukraine) mitgewirkt: Die Teilnehmer aus Chişinău waren der Historiker Paulus Adelsgruber (OeAD-Lektor, Projektleitung, Staatliche Universität der Moldau (USM), Philologische Fakultät und Staatliche Pädagogische Ion-Creangă-Universität (UPSC), Fakultät für fremde Sprachen und Literaturen); der Politikwissenschaftler Josef Sallanz (DAAD-Lektor, UPSC, Fakultät für fremde Sprachen und Literaturen); die Mitglieder des MDF: die Literaturwissenschaftlerin Cristina Grossu-Chiriac (USM, Fakultät für Philologie) und die Historikerin Galina Corman USM, Fakultät für Geschichte und Philosophie). Aus der Ukraine war die Linguistin Natalija Holovina beteiligt (Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität in Ismajil, Fakultät für Fremdsprachen). Als externe Expertin beteiligte sich außerdem die Historikerin Mariana Hausleitner aus Berlin, Deutschland. Weiters beteiligte sich der gute Kenner der ehemaligen bessarabiendeutschen Dörfer Vladimir Andronachi (Chişinău) durch einen Textbeitrag.
Das Pilotprojekt verfolgte zwei Ziele: einerseits das Erforschen der Interkulturalität der Bessarabiendeutschen und andererseits die Erarbeitung eines didaktischen Konzepts mit Reflexion der aktuellen pädagogischen Tätigkeit an den moldauischen und ukrainischen Hochschulen. Die Teilnehmer des Projekts behielten sowohl den wissenschaftliche als auch den didaktischen Aspekt im Auge und verfolgten somit das Ziel, Impulse für die Auseinandersetzung mit dem vergessenen Erbe der Bessarabiendeutschen in der Republik Moldau und in der Ukraine zu geben. Interdisziplinarität war das Grundprinzip des Projekts und diese wurde durch den vielfältigen akademischen Hintergrund der Projektbeteiligten gewährleistet. Die ersten Forschungsergebnisse des Pilotprojekts wurden durch die Teilnehmer im Rahmen der internationalen Konferenz des Ukrainischen Deutschlehrer- und Germanistenverbandes UDGV „Germanistik in den transkulturellen Räumen: Theorie und Praxis” am 26.-26. September 2020 im ukrainischen Lviv vorgestellt (online). Die Endergebnisse des Projekts wurden in folgendem Sammelband veröffentlicht: Philipp, Hannes/Stangl, Theresa/Wellner, Johann (Hg.): „Deutsch in der Ukraine. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Potentiale“. Der Band ist online verfügbar (s. Link am Ende). Unsere einzelnen Beiträge und ein Gruppenbeitrag (Didaktik) zu diesem Sammelband werden im Folgenden vorgestellt.
Ein wichtiger Quellenbestandteil für die Erforschung von Interkulturalität stellte die Presse der Bessarabiendeutschen dar sowie Interviews mit den heutigen Bewohnern jener Dörfer (oder der Nachbardörfer), in denen einst die Deutschen lebten. Von großem Interesse waren für uns die Bewohner aus jener Generation, die Erinnerungen aus der ersten oder zweiten Hand über die ehemaligen deutschen Nachbarn bewahren. Trotz der Umstände der Pandemie haben es die Projektteilnehmer geschafft, Interviews durchzuführen, und zwar einerseits in den heute in der Ukraine gelegenen Orten Chilia, Serpnewe, Tarutino (Ukraine) (N. Holovina); sowie andererseits in Moldau in den Dörfern Marienfeld, Jalpugeni, Albota (G. Corman; P. Adelsgruber). Zugleich wurden Interviews mit den Bessarabiendeutschen selbst durchgeführt, und zwar in Stuttgart (P. Adelsgruber). J. Sallanz griff auf die im Rahmen seiner Masterseminare zur bessarabiendeutschen Erinnerungsliteratur gemeinsam mit den Studierenden in Marienfeld, Tarutino/Tarutyne, Arzis/Arzys, Friedensthal/Myrnopillja, Sarata, Seimeny/Semeniwka und Schabo durchgeführten Interviews zurück.
Zivilisation und Kultur der Bessarabiendeutschen wurden interdisziplinär erforscht (Geschichte, Politologie, Linguistik und Literaturwissenschaft). Versetzt zurück in ihre Zeit, Ort und Raum wurden diese einerseits als Teil der deutschen Kultur und Zivilisation betrachtet (N. Holovina „Erinnerung an interkulturelle Kontakte in Interviews in ehemaligen deutschen Siedlungen Südbessarabiens“; C. Grossu-Chiriac „Darstellung von Interkulturalität in Periodika der Bessarabiendeutschen zwischen 1918-1940”). Dabei wurde festgestellt, dass besonders der linguistische Aspekt bei der Erforschung von Texten der Bessarabiendeutschen, die in Form von historischen Zeitschriften und Erinnerungsliteratur erhalten sind, ein großes Potenzial darstellt auch in der didaktischen Arbeit, im Unterricht an den Hochschulen, an Fakultäten für deutsche Philologie und Übersetzungswissenschaft. Aber auch die Frage der Interkulturalität, also die Beziehungen zwischen den Ethnien, hat großes pädagogisches Potenzial. Diese Fragen wurden quellengestützt aus der Perspektive der Bessarabiendeutschen untersucht. Die Feststellung der Existenz einer ziemlich engen interkulturellen Kommunikation zwischen den verschiedenen Ethnien in der multiethnischen Region Südbessarabien öffnet erneut die Diskussion über die in der Historiographie vorhandenen These der Historikerin Ute Schmidt über das Fehlen der Kommunikation in der bessarabischen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Die Erforschung der Mechanismen der damals herrschenden Atmosphäre eines weitgehend guten und friedlichen Zusammenlebens kann auch aus heutiger Sicht als eine nützliche Erfahrung betrachtet werden.
Neben dem Aspekt der kulturellen Entwicklung und Interkulturalität wurde anderseits auch die Verflechtung Bessarabiens in das kulturelle und politische System des Russischen Imperiums in der Zeit 1814-1918 und von Rumänien in der Zeit 1918-1940 betrachtet. Als die wirtschaftlich und kulturell am erfolgreichsten entwickelte Ethnie, erfreuten sich die Bessarabiendeutschen großem Interesse seitens russischer Reisender und anderer Beobachter. Als Folge dessen entstanden in der russischen Reiseliteratur bestimmte Stereotype und auch Vorurteile, die durch verschiedene historische Vorraussetzungen während der zaristischen Zeit geprägt wurden (G. Corman „Das Bild der Bessarabiendeutschen in der russischen Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts”). Des Weitern haben die Deutschen als Teil der bessarabischen Gesellschaft auch die Periode 1918-1940 miterlebt und auf ihre eigene Weise versucht, sich gegenüber den neuen Herausforderungen inklusive dem Rumänisierungsprozess zu positionieren (M. Hausleitner „Die Rumänisierung in Bessarabien und die Folgen für die deutsche Minderheit 1918-1940“). Auf diese Weise haben sie ihre eigenen Erfahrungen gewonnen als Einwohner einer Region, die zum Spielball der großen Mächte wurde. Eine Erfahrung, aus der man auch für unsere Zeit nützliche Lehren ziehen könnte.
Zugleich haben die Deutschen auch während der Jahre 1918-1940 weiterhin weitgehend harmonisch mit den benachbarten Ethnien wie Bulgaren, Ukrainern, Russen (darunter auch Lipowanern), Gagausen und Moldauern zusammengelebt und kulturell und vor allem wirtschaftlich kommuniziert (P. Adelsgruber „Erinnerungen an Interethnik. Interviews mit Bessarabiendeutschen anno 2020“). Dabei wurde für den gesamten Zeitabschnitt 1814-1940 die große Rolle der Bessarabiendeutschen (neben den Juden) in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung Bessarabiens festgestellt. Diese Tatsache führte dazu, dass es besonders im Bereich der Arbeitsverhältnisse zu interkulturellem Austausch kam, dann etwa, wenn beispielsweise russische oder bulgarische Knechte und Gesellen auf deutschen Bauernhöfen und in deutschen Handwerksbetrieben beschäftigt waren.
Das Thema der Bessarabiendeutschen wurde auch aus heutiger Perspektive betrachtet: Die Republik Moldau, besonders der südliche Teil, und der südwestliche Teil der ukrainischen Oblast Odessa bleiben weiterhin multiethnisch geprägt. In diesem Kontext verfolgte das Projekt das Ziel, diesbezüglich Interesse zu wecken und das Erforschen von Kultur und Geschichte auch der anderen Bevölkerungsgruppen wie der Ukrainer, Gagausen, Bulgaren, Moldauer und Russen (darunter auch der altgläubigen Lipowaner) und Moldauer zu fördern. Ein Weg, das zu erreichen stellen die Beschäftigung mit Erinnerungsliteratur der Bessarabiendeutschen und Exkursionen vor Ort dar (J. Sallanz „Auf bessarabiendeutscher Spurensuche. Erinnerungsliteratur im Deutschunterricht in der Republik Moldau“).
Neben den Einzelbeiträgen haben die Projektbeteiligten auch einen gemeinsamen Beitrag verfasst, in dem sie ihre didaktischen Erfahrungen und Perspektiven in Bezug auf die Einbeziehung des Themas der Bessarabiendeutschen in den Unterricht an moldauischen und ukrainischen Hochschulen darlegten. Dieser Aufsatz gliedert sich in folgende Abschnitte: N. Holovina: „Authentische Texte der Bessarabiendeutschen im Seminar „Sprachliche Aspekte der Geschichte der deutschen Kolonien in Bessarabien (1814-1940)““; C. Grossu-Chiriac: „Didaktisierung von bessarabiendeutschen Quellen für den Universitätsunterricht. Deutsche Literatur: Goethe-Rezeption in Periodika der Bessarabiendeutschen“; G. Corman: „Das Bild der Bessarabiendeutschen in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts an der Moldauischen Staatlichen Universität“; J. Sallanz: „Bessarabiendeutsche Erinnerungsliteratur als Thema im Masterstudiengang ‚Didaktik und Kommunikationsstrategien der deutschen Sprache‘“; P. Adelsgruber und V. Andronachi: „Blicke von außen und Blicke auf das eigene Fremde: Aktuelle Reiseberichte und andere Quellen zu den Bessarabiendeutschen im Landeskundeseminar ‚Zivilisation der deutschsprachigen Länder‘ (USM) und die Erfahrungen eines moldauischen Reiseführers mit bessarabiendeutschen Gruppen“).
Die erwähnten Beiträge sind online zugänglich. Der gemeinsame Beitrag (Didaktik) befindet sich auf S. 530-589, die einzelnen Forschungsbeiträge auf S. 440-529.
Galina Corman